Eine Weihnachtsgeschenkeinkaufgeschichte

1. Dezember
Der Dezember ist angebrochen, und in knapp drei Wochen ist Weihnachten. Das dürfte genügend Zeit sein, um Geschenke für die Familie zu finden. Dieses Jahr werde ich nicht – wie sonst immer – kurz vor dem Heiligen Abend durch die Stadt wetzen, um noch irgendetwas zu finden! Gleich morgen werde ich in die Stadt gehen!

2. Dezember
Gelassen schlendere ich an den Läden vorbei und betrachte die in den Schaufenstern ausgelegten Waren. Häufig sehe ich Objekte, die durchaus ganz nette Präsente abgeben könnten – aber das sind so jedermann-Geschenke, die einfach nichts aussagen. Nein, ich möchte, dass meine Geschenke, mögen sie auch bloß gekauft sein, ein wenig Persönlichkeit beinhalten. Wenn ich etwas verschenke, dann, weil ich weiß, dass der Beschenkte sich ehrlich darüber freut!
Leider finde ich heute nichts… Aber ich habe ja noch fast den ganzen Monat. Ich schaue die Tage noch einmal.

8. Dezember
Noch kein einziges Geschenk. Macht nichts, sind ja noch über zwei Wochen. Trotzdem merke ich schon, dass ich mit mehr Eile durch die Stadt streife. Es muss ja kein Geschenk sein, das perfekt auf die Person passt. Es sollte aber schon zeigen, dass ich mir Gedanken über ihre Interessen gemacht habe und nicht einfach irgendetwas gekauft habe.
Immer noch ohne Geschenk, aber immer noch zuversichtlich gehe ich wieder nach Hause. Ich werde die Tage schon etwas finden.

12. Dezember
Die Hälfte der Zeit ist um. Nein, ich habe immer noch nichts. Die Menschenmassen, die mich durch das Einkaufszentrum schieben und in mir eine klaustrophobische Ader erwecken – so nervig sie auch sein mögen, es beruhigt mich, dass ich anscheinend nicht der Einzige bin, der noch auf der Suche ist.
Etwas nervös werde ich dennoch, während ich den Blick über die prall gefüllten Ladentheken und Regale schweifen lasse und doch nichts finde, das als Geschenk geeignet ist. Hin und wieder ertappe ich mich dabei, wie ich ein oder zwei Produkte als „Notgeschenke“ im Hinterkopf behalte. Nein, so kauft man keine Geschenke! Es soll immerhin etwas Schönes sein, das aussagt „Ich habe mir darüber sorgfältig Gedanken gemacht“ – und nicht „Es war im Rahmen meines Budgets, also warum nicht“!

19. Dezember
Irgendetwas. Irgendetwas innerhalb meines Budgets. Bitte! Wo sind all die kleinen potentiellen Na-ja-ich-hab-halt-nichts-Besseres-gefunden-aber-das-ist-doch-auch-schön-Produkte, die ich die letzten Tage überall gesehen und dann sofort missbilligend ignoriert habe? Alles, was ich sehe, ist entweder preislich auf Ölbarone ausgerichtet oder so dermaßen daneben, dass man schon extrem verzweifelt (oder lieblos) sein muss, um so etwas tatsächlich zu Weihnachten zu verschenken.
Die mich umherschiebenden Massen sind auch nicht im Geringsten mehr beruhigend, sie sind nervtötend. Verdammte Idioten, hättet ihr euch nicht rechtzeitig um Weihnachtsgeschenke kümmern können?! Musstet ihr das unbedingt so vor euch herschieben, damit ihr jetzt, keine Woche vor Weihnachten, durch die Stadt hetzen und die Läden füllen müsst?! Wie soll ich denn jetzt noch irgendetwas finden?!

23. Dezember
Panisch sehe ich mich um, während ich notdürftig meine Wunden verbinde. Die anderen Kunden, diese blutrünstigen Monster, die früher einmal Menschen glichen, machen vor überhaupt nichts mehr halt. Ich wusste, dass der leere Verkaufstisch zu schön war, um wahr zu sein. Doch törichterweise gab ich mich der Illusion hin, und so erwischten sie mich in einem unachtsamen Moment. Doch es bringt nichts, diesen Fehler zu bedauern. Ich muss mich wieder in die Schlacht stürzen.
Mit einem markerschütternden Kampfschrei stürme ich auf die tobende Menge zu, die sich mit einer Brutalität, vor der selbst Chuck Norris erzittern würde, um die letzten verbleibenden Waren prügeln. Dicht neben mir fällt jemand zu Boden – noch vor dem Aufprall weiß ich, dass er nicht wieder aufstehen wird. Die grausamen Kämpfe der letzten Stunden – sie erscheinen mir wie Jahre – haben mir jegliches Mitgefühl geraubt, mit kaltem Zynismus schaue ich auf ihn herab und denke mir nur: „Ein Konkurrent weniger…“
Doch noch verbleiben unzählbar viele weitere, die meine Suche erschweren. Vorsichtig, um nicht die Aufmerksamkeit der Bestien auf mich zu lenken, begutachte ich meine bisherige Ausbeute. Ein paar gute Objekte habe ich bereits gefunden. Auf meine kürzlichste Errungenschaft schaue ich mit besonderen Stolz, hat sie mich doch einen Arm gekostet – aber ich sollte mich nicht beschweren, meinen Kontrahenten hat es schlimmer erwischt. Es ist nur noch ein Geschenk, das mir fehlt, dann habe ich es hinter mir. Mit leisem Zweifel frage ich mich, ob ich es schaffe… oder ob ich das Einkaufszentrum nicht mehr lebend verlassen werde.
Ich durchsuche den vorhin Gefallenen nach Gegenständen, die der alles vernichtende Sturm, bestehend aus gierigen Einkäufern, vielleicht übersehen hat. Natürlich nicht. Doch da erblicke ich etwas – ist das… nein, das ist vermutlich nur ein weiterer gefallener Körper. Ich schleiche mich näher heran, während um mich herum die Kunden toben. Tatsächlich… Dort liegt eine Ware, vollkommen ungeschützt. Eine Weihnachtstasse, nur ein leichter Bruch am Rand. Nervös sehe ich mich um – ist es vielleicht eine Falle? Warten die Bestien vielleicht nur darauf, dass ich es mir nehme, um mich dann brutal zu überfallen und mir meine Habseligkeiten zu entwenden? Es ist nichts zu sehen. Vorsichtig strecke ich meine Hand aus und greife nach der Tasse. Keine Reaktion. Vorsichtig schiebe ich sie in meine Tasche… da versetzt mir etwas einen Schlag ins Genick und ich fliege zur Seite. Als ich mich aufrichte, sehe ich ein wild knurrendes Etwas, früher einmal menschlich, nun auf allen Vieren kriechend mit blutigen Krallen. Mit einer unmenschlichen Stimme schreit es mich an, doch die Laute gleichen keinen menschlichen Wörtern. Eine Gänsehaut zieht sich über meinen gesamten Körper, das Blut gefriert in meinen Adern – aber ich werde diese Tasse nicht hergeben, nicht, wo ich so nah am Ziel bin! Mit zitternden Beinen stehe ich auf und versuche zu fliehen – doch Andere haben den Kampf zwischen uns gesehen und bemerkt, dass ich nach wie vor die Tasse in der Hand habe. Auch sie stürzen sich nun auf mich, und ich verdanke es nur der Tatsache, dass sie sich dabei gegenseitig anfallen und aufhalten, dass ich mich von der Menschenmasse entfernen kann.
Schnell stürme ich auf den Ausgang zu. Ich sehe meinen Sieg bereits als sicher, da greift etwas nach meinem Bein und ich falle mit einem gewaltigen Knall zu Boden. Eines dieser Wesen faucht mich an, doch es scheint zu stark verletzt, um mich verfolgen zu können. Dennoch schaffe ich es nicht, aufzustehen – die Tasse ist zwar (einigermaßen) unversehrt, doch scheinbar habe ich mir ein Bein gebrochen. Als ich huste, merke ich, dass ich dabei auch ein wenig Blut spucke. Um mich herum wird es dunkel… Doch bevor ich aufgebe, sehe ich noch einmal auf. Der Ausgang, er ist nur noch wenige Meter entfernt. Mit letzter Kraft krieche ich darauf zu. Hinter mir höre ich die Bestien kommen, scheinbar haben sie bemerkt, dass es effektiver ist, mir zu folgen, statt sich gegenseitig zu bekriegen. Meine Arme werden taub, doch ich krieche weiter. Ein seltsames Gefühl umgibt mich – ein Gefühl des Stolzes. Selbst, wenn ich jetzt sterbe, weiß ich, dass ich nicht aufgegeben habe. Danach wird mir schwarz vor Augen.

Als ich wieder aufwache, liege ich vor der Eingangstür. Ich bin draußen, dort, wo die Kreaturen nicht hinkommen. Niemand verlässt das Einkaufszentrum heute, ohne alle Geschenke zu haben. Ich… habe es geschafft. Bin ich wirklich so weit gekrochen? Hatte ich wirklich die Kraft dazu? Schwer atmend setze ich mich auf. Neben mir sitzt ein Mann, der traurig zu Boden starrt. Ich versuche zu sprechen, bringe jedoch nur ein Röcheln hervor. Doch es genügt, damit er bemerkt, dass ich bei Bewusstsein bin. Er schaut mich an und sagt: „Dich hat es ja ganz schön schlimm erwischt.“ Geschockt schaue ich zu meiner Tasche. Sie liegt neben mir. Ich versuche, meinen verbleibenden, von Blessuren übersäten Arm zu heben und nach ihr zu greifen, doch es gelingt mir nicht. „Keine Sorge,“ fährt er fort, „ich habe Deine Geschenke nicht angerührt. Ich habe bereits, was ich brauche.“
Er seufzt traurig. „Du fragst Dich sicher, warum ich Dir geholfen habe. Weißt Du, ich hatte mal einen Sohn in Deinem Alter. Wie auch Du hatte er sich viel zu spät um die Geschenke gekümmert.“ Er lächelt und schüttelt den Kopf. Doch dann wird sein Blick ernst. „Er hatte keine Chance… Am letzten Tag vor Weihnachten einkaufen zu gehen… Warum glaubte er, dass er das hätte überleben können?“ Als ich ihn wieder anschaue, sehe ich, dass er weint. Ein paar Minuten passiert nichts. Dann sieht er zu mir.
„Als ich Dich dort liegen sah, musste ich einfach an ihn denken. Wie oft habe ich mir gewünscht, dass mein Sohn damals jemanden gehabt hätte, der ihm hilft. Deswegen wollte ich Dir helfen. Damit ich zumindest einer Person diesen Schmerz ersparen kann.“ Meine Augen füllen sich mit Tränen, dankbar schaue ich ihn an. Er wendet sich ab. Ein letztes Mal schaut er mich über die Schulter an und sagt: „Ich wünsche Dir ein frohes Fest…“, danach geht er langsam weg. Es dauert einige Minuten, bis auch ich mich langsam rege. Mit schmerzenden Muskeln stehe ich auf, nehme meine Tasche und gehe nach Hause.

24. Dezember
Scheiße. Ich kann immer noch keine Geschenke einpacken. Wenigstens muss ich diesen Mist jetzt ein Jahr lang nicht mehr ertragen.
Nachdem der Stress überstanden ist, bleibt nur noch eines zu tun: Ich wünsche all meinen Lesern (ja, euch beiden!) ein frohes Fest!

4 Kommentare zu “Eine Weihnachtsgeschenkeinkaufgeschichte

    • Mich selbst zähle ich nicht mit. :D

      Mein Arm ist schon fast ganz wieder nachgewachsen, wird also wieder. Dir auch ein frohes Fest! (NOCH ist Weihnachten, also ist es NICHT zu spät!)

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